Kultur | Natur: Kunst und Philosophie im Kontext der Stadtentwicklung
Mit: Ala Plastica – Sybille Bauriedl – Joseph Beuys – Gerd de Bruyn – Gernot Böhme – Critical Art Ensemble – Mike Davis – Fährstraßenfest – Lili Fischer – Adrienne Goehler – Anke Haarmann – Nadine Hanemann – Lisa Heldke – Uli Hellweg – Thomas Heyd – Manuel Humburg – Interkultureller Garten – Harald Köpke – Harald Lemke – Ton Matton – Kathrin Milan – Dirck Möllmann – Anna Müller – Dan Peterman – Nana Petzet – Andrea Pfeiffer – Elisabeth Richnow – Volker Sokollek – Susan Leibovitz Steinman – Simona Weisleder – Malte Willms – Gesa Woltjen – Jürgen Wüpper Vom 16. August bis zum 14. September 2008 fand im Rahmen der IBA Hamburg der Elbinsel Sommer als künstlerische und kontextuelle Ausstellungsplattform unter dem Titel „Kultur | Natur“ in Hamburg-Wilhelmsburg statt. Er wurde 2008 erstmals von einem unabhängigen Kuratorenteam entwickelt, Anke Haarmann und Harald Lemke [AHL], und setzte sich aus vier Aktionen zusammen: der Strip - die Plakatstrecke, das Archiv der Künste, die künstlerischen Projekte und die Ausflüge des Denkens.Intro Eine künstlerische und kontextuelle Plattform zur Stadt im Klimawandel Belegt nicht die Kulturgeschichte der modernen Industriegesellschaften, dass die kapitalistische Ökonomie auf Kosten eines ökologischen Naturverhältnisses geht? Aber was ist eigentlich „die Natur&ldquo, und in welchem Verhältnis steht sie zur „Kultur&ldquo? Stehen Elbe und Wiebelschmiele, Polareis und Weltmeere als „erste Natur“ wirklich im Widerspruch zur „städtischen Kultur“? Im Rahmen des Kunst- und Kulturprogramms der Internationalen Bauausstellung Hamburg (IBA) hat die künstlerische und kontextuelle Plattform Kultur|Natur den Naturrbegriff oder genauer die gesellschaftlich vorherrschenden Naturbegriffe und deren kulturelle Metamorphosen befragt. Ziel war es, mit den kritischen Mitteln der Kunst und Philosophie „die Stadt im Klimawandel“ zu reflektieren. Um auf den Klimawandel zu reagieren, scheint es lohnend, die kulturell geprägten Naturvorstellungen zu untersuchen und die gesellschaftlichen Zusammenhänge zu erforschen, die das globale Kultur-Natur-Verhältnis regieren. Der französische Anthropologe und Akteur-Netzwerk-Theoretiker Bruno Latour spricht von „Kollektiven“, um darauf hinzuweisen, dass wir es nie mit „der Natur“, sondern stets mit schwer durchschaubaren Bezügen zu tun haben, die Natur und Kultur zu einem Kultur-Natur-Kollektiv verbinden. Solche Kollektive, in denen sich natürliche und kulturelle Akteure vermischen, bilden sach- oder ortsspezifische Netzwerke. Die in ihnen verwobenen Akteure aber finden sich an allen Orten, überall. In Hamburg-Wilhelmsburg, wo die Ausstellungsplattform Kultur|Natur stattfand, vermischen sich die Geschichte des Stadtteils, seine Nähe zum Hamburger Hafen, seine Wasser- und Deltasituation, seine Bevölkerungsstruktur, die politischen Machtverhältnisse und ökonomischen Dynamiken und vieles mehr zu einem solchen Kollektiv. In diesem Kollektiv droht der Moorfrosch in den Wettern - den Entwässerungsgräben der Marschlande - auszusterben, trennt der Deich die Elbe vom Inland, stapeln sich die Container zu Metallbergen, werden Gärten zu Gartenhallen umgebaut, sind Kanäle und Brachen mit industriellen Altlasten kontaminiert, wuchern Autobahnpläne und werden nerven- und klimaschonende Fahrradwege gefordert. Sind Fahrradwege in diesem Zusammenhang nur Kultur und Moorfrösche nur Natur? Historisch hat sich das Verhültnis von Natur und Kultur im Abendland als Dualismus herausgebildet. Was wilde Natur war, sollte durch Kultur zivilisiert werden. Was kulturell durchformt war, konnte nicht als natürlich gelten. Durch diesen grundbegrifflichen Gegensatz nehmen wir noch heute unsere natürliche Umwelt wahr. Wir trennen Kultur und Natur, Stadt und Land, Künstlich und Natürlich voneinander, auch wenn sich inzwischen die Vorzeichen verändert haben: Nicht mehr die Kultur der Menschen scheint erstrebenswert, sondern die von Menschen zerstörte Natur erscheint schützenswert. Doch die Antinomie von Mensch und Umwelt besteht immer noch unhinterfragt fort. Blumen sind Natur - Häuser Kultur. Mischwesen wie Hafenbecken oder Naturschutzgebiete werden begrifflich gereinigt. Wilhelmsburg ist voller Mischwesen, nicht rein. Kultur|Natur hat die kulturelle Befragung des menschlichen Naturverhältnisses nicht ortlos, sondern am Beispiel der speziellen Situation in Wilhelmsburg betrieben. In diesem südlich der Elbe gelegenen Stadtteil von Hamburg grenzt die Hafenindustrie an Wohngebiete, ist der Anteil an Migranten und Arbeitslosen besonders hoch, bietet die Landschaft Naturschutzgebiete, Gemüseanbauflächen, Gründerrzeitensembles, Hochhaussiedlungen, Einnfamilienhäuser. Hier gibt es seit Jahrzehnten eine aktive Bürgerbewegung und das Image eines vernachlässigten Stadtteils, Gentrifizierungsängste und Forderungen nach Stadtentwicklungsmaßnahmen, Lärm durch Hafen- und Industrieverkehre, aber auch seltene Marschvögel auf Feuchtwiesen. In diesen Ort greift die Hamburger Politik mithilfe einer Internationalen Bauausstellung (IBA) zwischen 2007 und 2013 ein und „entwickelt Stadt„. Ein ebenso umstrittener wie kritisch nutzbarer Baustein der IBA Hamburg ist das seit 2008 mit Kultur|Natur erstmals unabhängig kuratierte Kunst- und Kulturprogramm, der „Elbinsel Sommer“. Der „Elbinsel Sommer“ ist Teil der Stadtentwicklung und bezieht sich auf Themen dieser Bauausstellung. Aber was können Kunst und Kultur im Kontext der Stadtentwicklung leisten und wem dienen sie? Kultur|Natur hat sich mit den Mitteln eines kooperativen und interventionistischen Kunstbegriffs sowie mit den reflexiven Praktiken der Theorie zu der Problematik verhalten, inwieweit Kunst und Kultur zu Zwecken einer hierarchischen Stadtplanung instrumentalisiert werden. Gegenüber einer bloß ästhetischen Aufwertung durch „schöne Kunst“ wurden die Strategien der künstlerischen Forschung und der ortsspezifischen Reflexion verfolgt. Den Klimawandel als kollektive Erfahrung und im kulturellen Kontext zu begreifen, bedeutet in Bezug auf Stadtentwicklung, konkrete Problemfelder und Handlungsoptionen in Wilhelmsburg zu untersuchen. Es wurden dazu vier Aktionsfelder entwickelt: Das Archiv der Künste recycelt Kunst, die schon in der Vergangenheit zu den Themen Ökologie, Naturschutz, Stadtentwicklung oder Klimawandel entstanden ist. Sechs künstlerische Projekte intervenierten in den Wilhelmsburger Stadtraum. Der Stip - die Plakatstrecke griff ein verkehrspolitisches Problem auf. Fünf Ausflüge des Denkens thematisierten fünf Konfliktfelder vor Ort. Das Archiv der Künste war in der TONNE untergebracht, einem Gebäude, das seit 1994 als Rohbauruine leer stand. Durch die erstmalige Nutzung wurde die rein ökonomische Verwendung des Raums infrage gestellt. Durch das Ausstellen von künstlerischen Arbeiten, die in der Vergangenheit schon zu den Themen Klima, Ökologie, Natur und Nachhaltigkeit im Großraum Hamburg entwickelt worden waren, hielt das Archiv der Künste dem Paradigma des künstlerischen Produktivismus eine bedachtsame, d. h. die vorhandenen Arbeiten bedenkende und bewahrende, Ausstellungspraxis entgegen. Der Ort soll auch längerfristig für Kunst in Wilhelmsburg nutzbar gemacht werden. Die sechs künstlerischen Projekte haben sich mit Wilhelmsburg als Lokalität und mit den Themen Stadt im Klimawandel, Kultur der Natur, sowie Ökologie und Industrie auseinandergesetzt. Um die Tatsache hervorzuheben, dass sich die Arbeitsweise zeitgenössischer Künstler kaum von Aktivitäten örtlicher Initiativen und kritischer Teilöffentlichkeiten unterscheidet - und mithin ein fließender Übergang zwischen künstlerischer und urbaner Praxis besteht - ging es der Plattform Kultur|Natur darum, gleichermaßen lokal und international agierende Akteure als Künstlerpositionen zu involvieren. Alle Positionen setzen sich zu dem bestehenden Kontext und dessen komplexer Problemlage durch eine interventionistische oder kooperative Arbeitsform in Beziehung. Der Strip - die Plakatstrecke setzte als kollektive Skulptur im öffentlichen Raum ein verkehrspolitisches Zeichen. Denn die „natürliche“ Umgebung der Nord-Wilhelmsburger besteht aus Dockland, Containerlagerplätzen, Industriegebäuden und Lkw-Verkehr. Seit 2002 besteht die Forderung, dass ein Fahrradweg durch dieses Gelände gebaut wird, um eine sichere und nachhaltige Verkehrsanbindung nach Nord-Hamburg zu gewährleisten. über 100 Plakatentwürfe wurden bei Kultur|Natur im Rahmen einer offenen Ausschreibung eingereicht und als Großplakate auf der Strecke zwischen Nord-Wilhelmsburg und dem Hamburger Zentrum aufgestellt. Die Ausflüge des Denkens machten sich mit Bussen, Barkassen oder Fahrrädern auf den Weg, um Problemfelder wie Hafen, Energie, Natur, Gartenkultur oder Stadtentwicklung in ihrer lokalen und globalen Bedeutung zu reflektieren. Ortsbezogenes Wissen verband und ergänzte sich mit allgemeinerer theoretischer Reflexion. Kultur|Natur hat auf diese Weise philosophisches Nachdenken gleichberechtigt neben künstlerische Praxis gestellt. Alle drei - lokales Wissen, philosophische Reflexion und künstlerische Arbeit - werden als stadtkulturelle Kräfte wirksam. Künstlerische, philosophische und wissenschaftliche Arbeitsweisen lassen sich als kombinierbare Werkzeuge nutzen, um gesellschaftlich relevante Themen der Gegenwart in unterschiedlichen Sprachen zu vergegenwärtigen und erfahrbar zu machen. Mit der Verbindung von künstlerischer Praxis und Theorie reagiert die Plattform auf die Veränderungen im Selbstverständnis der künstlerischen und theoretischen Disziplinen, um komplexe Zusammenhänge wie das Verhältnis von Kultur und Natur im Kontext der Stadtentwicklung zu reflektieren. Anke Haarmann und Harald Lemke [AHL] |